Franziska Thun-Hohenstein ist Senior Fellow am Berliner Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL), mit dessen Geschichte und Vorgeschichte sie als langjährige wissenschaftliche Mitarbeiterin des ZfL und, in den 1980er Jahren, des Zentralinstituts für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR eng verbunden ist. Die bewegten Perestrojka-Jahre hat sie zwischen Berlin (DDR) und Moskau intensiv miterlebt.
novinki veröffentlicht ein zweiteiliges Interview mit der Perestrojka-Zeitzeugin Franziska Thun-Hohenstein: Im ersten Teil spricht sie über ihre Erfahrungen und Beobachtungen jener Jahre in Berlin und Moskau – und darüber, wie sich der „Umbau“ auf die Literatur, Filmkultur und Publizistik auswirkte oder sogar davon ausging. Im zweiten Teil hebt sie die Rolle der Literaturzeitschrift Ogonëk als Seismograph der Perestrojka-Ära hervor – anhand einiger Zeitschriftausgaben der Jahrgänge 1988 und 1989, die eine hochkonzentrierte Gleichzeitigkeit der Debatten offenlegen.
novinki: Was fällt Ihnen auf, lesen Sie Ihre eigenen Aufzeichnungen der Perestrojka-Ära aus heutiger Position?
Thun-Hohenstein: Ich habe einiges aufgehoben, weil ich dachte: Das war ja doch eine spannende Zeit, vielleicht komme ich im Alter nochmal dazu, meine Karteikarten mit den Stichpunkten durchzusehen. Ich hatte sie jahrelang nicht mehr in der Hand – und als ich sie jetzt durchging, war ich wirklich überrascht: Dass ich mich derart stark mit der ungeheuren Verwobenheit und Komplexität der Perestrojka-Zeit befasst habe und darüber gesprochen habe, wusste ich nicht mehr im Einzelnen. Die Dynamik der Ereignisse kommt einem wieder entgegen, wenn man sich diese Materialien anschaut: Alles begann mit Reformen im Verwaltungsapparat und im Wirtschaftsbereich, mit der Frage der Öffnung – der glasnost‘, dem Aussprechen.
Noch 1987 hatte ich geschrieben, es gäbe niemanden in der Intelligenzija, der gegen radikale Veränderung sei, aber die Motive und Ziele dahinter seien sehr unterschiedlich. Das wird im Laufe der Jahre viel präziser, weil man immer klarer nachvollziehen konnte, wer eine russisch-nationalistische, auch antisemitische, Haltung einnahm, wer auf dogmatischen Parteipositionen beharrte und wer sich rasant in Richtung Moderne bewegte.
So sprach beispielsweise Valentin Rasputin in Ostberlin darüber, dass die Literatur wörtlich zu einer rasšatyvanie (Ins-Wanken-Bringen) beigetragen und an der Gesellschaft gerüttelt habe, damit diese aufwacht. Aber, sagte er, dann solle die Literatur sich doch bitte an den „positiven Trieben“ orientieren und nicht immer nur die Probleme auswalzen.
In den Jahren 1987 bis 1989 habe ich meinen Vorträgen eine persönliche Vorbemerkung vorangestellt, die ich – im Unterschied zum eigentlichen Vortrag – ausformuliert hatte. Auf einer Karteikarte vom Herbst 1987 fand ich folgende Vorbemerkung zu meinem Vortrag vor Schriftstellern in Ostberlin, deren Anfang ich zitieren möchte:
„So oft ich in den letzten Monaten über Sowjetliteratur und die Perestrojka gesprochen habe, es ist für mich jedesmal erregend. Erregend, weil es mir in meinem Leben das erste Mal widerfährt, so unmittelbar Zeuge von Veränderungen in der Sowjetunion zu sein, die von wahrhaft historischer Tragweite sind. Erregend war auch die Rede von Gorbačev zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution, da sie dokumentiert, über welche enormen geistigen Potenzen wir verfügen, wenn offensiv, ohne Scheu vor den Realitäten in Geschichte und Gegenwart dialektische Gesellschaftsanalyse vorgenommen wird. Die Perestrojka, das ‚neue Denken‘ betreffen mich ganz konkret. Und das nicht nur, weil ich mich mit der Sowjetliteratur beschäftige, oder weil ich lange in Moskau gelebt habe. Ich empfinde die eingeleiteten Veränderungen in der Sowjetunion auf dem Wege einer umfassenden Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens zur Beschleunigung der sozial-ökonomischen Entwicklung, die ungeheuren Anstrengungen beim Durchdenken der Entwicklungswege des Sozialismus, beim Entwickeln neuer Fragestellungen, die sich mit zwingender Notwendigkeit aus den Problemen unserer Zeit ergeben, als enorme Herausforderung an uns alle. Es geht letztlich nicht nur um innersowjetische Fragen, es geht um die Zukunft des Sozialismus, ja um die Geschicke der Welt.“
Wenn ich das jetzt lese, 35 Jahre später, ist das für mich wirklich ein bisschen skurril: Ich soll über die Literatur reden, aber rede mit solchem Pathos über die Reformierbarkeit des Sozialismus – und das in der DDR-Situation 1988, in der vieles verboten war! Es wurden Leute kriminalisiert, von der Stasi belangt, weil sie ebenjene Texte übersetzten und sich gegenseitig zukommen ließen (also hektografierten), über die ich in den Vorträgen sprach und über die ich Verlagsgutachten schrieb (für beides erhielt ich ja ein Honorar). Dieses Pathos wurde offenbar gebraucht – bei den Vorträgen saßen oft sehr viele Leute im Raum.
Auf einer anderen Karteikarte habe ich zunächst aufgelistet, welche Punkte ich ansprechen werde: die Aufgaben von Kunst und Literatur in der Perestrojka; das Selbstverständnis der Autoren; kulturelles, literarisches Leben; Erbe, Aufarbeitung; Neuerscheinungen. Meist habe ich aber zuerst – und das hat sich im Laufe der Zeit verstärkt – ganz allgemein über den gesellschaftlichen Hintergrund gesprochen.
Es war für mich eine irrsinnig wichtige Situation, dass die Perestrojka im geistig-kulturellen, aber auch im politischen Bereich etwas war, was einen fortwährend denken ließ: Wann geht es endlich bei uns los? Da muss sich etwas bewegen – die Literatur ist der Vorreiter. Das war das Gefühl.
Es fällt auf, wie stark ich immer darauf insistiert habe, dass dies ein langwieriger Prozess sein wird – und dass das Entscheidende ist, dass die Leute aufwachen und mitmachen, dass es um die Aktivität jedes Einzelnen geht: dass jeder an der Stelle, wo er kann, mitmacht, seinen Mund aufmacht und mitdenkt. Das war eigentlich der Punkt, um den es mir bei diesen Veranstaltungen vor allem ging.
Noch ein Nachtrag zu meinen Vorträgen, zu dieser neuen Offenheit. Es gab 1988 mal eine kritische Stellungnahme eines hohen sowjetischen Parteifunktionärs, wahrscheinlich aus dem Politbüro, der sagte, er schlage morgens die Zeitung auf und wisse nicht mehr, was drinsteht. Als sich Wochen später beim Schriftstellerkongress der DDR der Schriftsteller Christoph Hein, der einen meiner Vorträge gehört hatte, auf diese Formulierung bezog, vermutete ich damals, er könnte sie vielleicht aus meinem Vortrag haben. Christoph Hein betonte Grundsätzliches: Zeitungen sollten Neues publizieren, dass man herausgefordert werde zum Denken. In der Presse müsse man überhaupt erst einmal mit Dingen konfrontiert werden, die man nicht wisse – deshalb lese man sie. Man wolle ja nicht alles Fertigaufbereitete immer wieder vorgetischt bekommen.
Der Raum des Publizierbaren wurde in der Sowjetunion immer weiter ausgedehnt. Deshalb war es sehr interessant, die Leserbriefe im Ogonëk zu lesen. Interessant war, dass sich die Leute beschwerten: So schrieb jemand, sie wollten einen Literaturabend in einer sibirischen Stadt über einen bislang verbotenen Dichter – ich weiß nicht mehr, um wen es sich handelte; vermutlich um jemanden, der nach 1917 in den Westen emigriert war, – durchführen, doch das wurde ihnen verboten. In einem anderen Leserbrief wünschte sich jemand, dass die Zeitschrift eine Liste erlaubter Autorinnen und Autoren veröffentlichte, denn das, was in Moskau erlaubt war, schien noch lange nicht in irgendeiner fernen sibirischen Stadt erlaubt zu sein.
„(D)ie Perestrojka im geistig-kulturellen, aber auch im politischen Bereich war etwas, was einen fortwährend denken ließ: Wann geht es endlich bei uns los? Da muss sich etwas bewegen – die Literatur ist der Vorreiter. Das war das Gefühl.“ |
novinki: Lassen Sie uns zum weiteren politisch-historischen Kontext der Perestrojka-Jahre kommen – zur Öffnung der Archive und einer ersten möglichen gesellschaftlichen Debatte über die Verbrechen der Stalinzeit, der sowjetischen Gewaltherrschaft …
Thun-Hohenstein: Das m.E. aus heutiger Sicht wichtigste Ereignis war Ende 1988, Anfang 1989 die Gründung von Memorial, der Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge. Ehrlicherweise muss ich sagen, dass ich die Gründung von Memorial damals nicht als ein so zentrales Moment wahrgenommen habe. Zuvor gab es schon mehrere Artikel im Ogonëk: Es wurden Gelder gesammelt für ein Denkmal zu Ehren der Opfer der Stalinzeit. Von Memorial ging die Initiative aus, es wurden viele Erinnerungen und materielle Zeugnisse von Opfern des GULAG gesammelt. Die Resonanz war enorm.
Das Erschrecken über die Dimensionen des Terrors war groß. Viele Details aus den nun publizierten Materialien waren mir vorher nicht bekannt. Ich gehörte nicht zur Opposition, die das alles vorher schon miterforscht hatte – auch von meiner inneren Haltung her nicht. Aber ich merkte damals, wie wichtig es war, sich damit zu beschäftigen. Das Thema sollte mich nicht mehr loslassen.
Zu all diesen Fragen hinzu kamen die sozialökonomischen Probleme in der Sowjetunion. Ich war nicht naiv, ich kannte vieles aus der Lebensrealität, weil ich dort gelebt hatte. Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger wohnte ich in einem Moskauer Studentenwohnheim – dort waren Küchenschaben quasi unsere „liebsten“ Gäste und es gab nur Mannschaftsduschen. Im Nachhinein ist das etwas amüsant, aber damals waren die Wohnbedingungen z.T. recht hart.
Mit anderen Worten: Viele Probleme, die unterschwellig brodelten und im Alltagsleben der Menschen präsent waren, wurden nun offen thematisiert und, beispielsweise im Ogonëk, in vielen Fotoreportagen sichtbar.
„Ogonëk war in diesen Jahren geprägt durch eine starke Vielfalt der Themen und Genres (…). Es ist diese Lebendigkeit und Dynamik, die wirklich schwer unter einen Hut zu bekommen war. Ogonëk war ein Seismograph der Zeit.“ |
novinki: Ogonëk (Feuerchen), die älteste russische illustrierte Wochenzeitschrift, deren Reportagen über alle Regionen und Errungenschaften der Sowjetunion in den 1920er und 1930er Jahren vor allem auch der Propaganda dienten, kann wohl als Sprachrohr der Perestrojka bezeichnet werden. Kann man das so sagen?
Thun-Hohenstein: Vitalij Korotič übernahm die Zeitschrift 1986 als Chefredakteur – damit wurde Ogonëk zu einem Vorreiter von Glasnost und Perestrojka. Diese historische Zeitschrift, in der seit den 1920er Jahren das Leben in der Sowjetunion dokumentiert wurde, hatte 1987 eine Auflage von anderthalb Millionen Exemplaren. Mitte 1988 waren es rund 1,8 Millionen und 1989 bereits über 3 Millionen. Ihre Auflagenhöhe explodierte regelrecht.
Ogonëk war in diesen Jahren geprägt durch eine starke Vielfalt der Themen und Genres: In vielen Heften wurden erstmals bisher unpublizierte literarische Texte veröffentlicht (Gedichte, Auszüge aus Prosatexten, Erinnerungen) – zu den für mich wichtigen gehörten Auszüge aus den Tagebuchaufzeichnungen von Marina Cvetaeva von 1919-1920, Auszüge aus bisher unpublizierten Kapiteln der Erinnerungen von Il’ja Ėrenburg Ljudi, gody, žizn‘ (Menschen, Jahre, Leben). Berichtet (vielfach mit Fotos) wurde über die verschiedensten Bereiche des Lebens – über das Leben in Strafkolonien für Jugendliche ebenso wie über die schlechte Versorgung Blinder in der Sowjetunion oder die erschreckenden Bedingungen, unter denen Militärflieger und deren Familien in entfernten Regionen leben mussten. Durch die Leserbriefe bekam man ein Gefühl dafür, was in der jeweiligen Woche die neuralgischen Punkte waren bzw. sein könnten. Ich habe die Zeitschrift zwar immer etwas später bekommen, aber für meine Vorträge waren die Hefte wirklich zentral.
Die Zeitschrift hatte verschiedene Funktionen: Berichterstattung, Publikationen aus Archiven, Aufklärung, Neugierig-machen, Durchsetzen von Positionen, Intervention in Polemiken. Es ist diese Lebendigkeit und Dynamik, die wirklich schwer unter einen Hut zu bekommen war. Ogonëk war ein Seismograph der Zeit.
novinki: Sie haben einige Ausgaben der Zeitschrift Ogonëk aus ihrem Archiv geholt und mitgebracht, lassen Sie uns einige Ausgaben durchsehen. Wie äußerte sich das für jene Jahre charakteristische Umdenken auf diesen Seiten? Was war aussprechbar, welche Themen wiederholten sich?
Thun-Hohenstein: Das Entscheidende war der Bruch mit gewohnten Denkweisen der Menschen – eine psychologische Umgestaltung (psychologičeskaja perestrojka). Das betraf den Umgang mit Geschichte ebenso wie mit der Gegenwart. Viele Dokumentationen befassten sich mit Vertretern der innerparteilichen Opposition, die Stalins Terror zum Opfer fielen, wie beispielsweise Nikolaj Bucharin und Fedor Raskol’nikov. Es ging grundsätzlich um das Benennen, das Aufdecken von Problemen, so etwa um die Frage der Versorgung der Veteranen, der alten Menschen. In vielen Rubriken wurden Perestrojka-Vorhaben diskutiert, auch wurde nachgefragt, ob nach einer Publikation zu problematischen sozialen oder Alltagsthemen etwas getan worden war.
Ein Beispiel aus der sowjetischen Gegenwart war die dramatisch schlechte medizinische Versorgung in „Mittelasien“, wie die Sowjetrepubliken Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Kasachstan im Russischen genannt wurden. Aus einem Bericht erfuhr ich, dass es dort eine massive Säuglingssterblichkeit gab und Magen-Darm-Infektionen grassierten. 1987 wurden 240 Ärzte-Brigaden dorthin geschickt. In Turkmenistan waren 1988 mehr als 60 Prozent der Entbindungsheime ohne Warmwasser, zwei Drittel ohne Kanalisation. Diese Berichte schockierten, aber dass solche Ziffern und Maßnahmen im Ogonëk überhaupt benannt wurden, bedeutete sehr viel. Ich machte mir Notizen und nahm diese Informationen in meine Vorträge auf, weil das in der DDR natürlich nicht bekannt war.
(Franziska Thun-Hohenstein nimmt mitgebrachte Ausgaben zur Hand, blättert sie erzählend durch.)[
Nr. 12, 1988. Dieses Heft habe ich damals ganz durchgearbeitet, es ist voller Anstreichungen. Im Ogonëk gab es generell verschiedene Rubriken, zum Beispiel den „Runden Tisch“: Diese Ausgabe enthält ein langes Rundtischgespräch unter der Überschrift „Mehr Sozialismus!“ über Grundfragen der Perestrojka. An einer Stelle wird Stalin zitiert – und ich klemmte mir das deutsche Zitat dran, damit ich es in den Vorträgen zitieren konnte.
In dieser, wie übrigens in einigen Ausgaben, gibt es einen Bericht über indigene Völker vor allem des Nordens und deren auch ökologische Bedrohtheit. Dann gibt es ein langes Interview mit Sergej Michalkov, dem Kinderbuchautor und später stark kritisierten Textautor aller drei Nationalhymnen (der stalinschen, der poststalinschen sowjetischen und selbst der russisch-postsowjetischen) und Vater der Filmregisseure Nikita Michalkov und Andrej Michalkov-Končalovskij. Es folgt eine Reportage über Oleg Dal‘, einen sehr bekannten Theater- und Filmschauspieler und ein Porträtfoto des Literaturwissenschaftlers Viktor Šklovskij von Jurij Rost (begleitet von einem kurzen Text). Auch eine Fortsetzung des Romans Der menschliche Faktor von Graham Greene ist hier abgedruckt. Zum Schluss gibt es einen Artikel über Aleksandr Jašin, einen jung gestorbenen Dichter aus Nordrussland, dessen parteikritische Erzählung Ryčagi (Die Hebel) in der Tauwetter-Zeit für Aufsehen gesorgt hatte.
Nr. 49, 1988. In diesem Heft gibt es einen längeren Überblicksartikel über neuere literarische Veröffentlichungen. Ein für das literarische Leben äußerst wichtiger Text ist die hier abgedruckte Mitschrift der Journalistin Frida Vikdorova vom Prozess gegen Iosif Brodskij (Joseph Brodsky), der im Februar 1964 stattfand. Am Schluss steht eine Fotoreportage über die „Woche des Gewissens“ (Nedelja sovesti) – einer Woche, während der bei verschiedenen Veranstaltungen Geld gesammelt wurde für ein Denkmal für die Opfer der stalinschen Repressionen.
Nr. 6, 1989. Diese Ausgabe erschien, kurz nachdem die Gesellschaft Memorial gegründet worden war, weshalb auf den ersten beiden Seiten Fotos von der Gründungskonferenz zu sehen sind, auf einem befindet sich Andrej Sacharov als Gründungsvorsitzender im Zentrum. Publiziert sind zahlreiche Leserbriefe; Evgenij Zamjatins Erzählung Navodnenie (Überschwemmung); ein langes Interview mit dem Politiker Nikolaj G. Egoryčev (1962-1967 erster Sekretär des Moskauer Stadtkomitees der KPdSU, von Februar bis November 1988 sowjetischer Botschafter in Afghanistan) über seine Erinnerungen an Chruščёv, Brežnev u.a. sowie ein Bericht über Kunstverkäufe ins Ausland nach 1917.
Mit dieser Zeitschrift war man sozusagen mittendrin, wurde mit verschiedenen Themen und Genres konfrontiert. Praktisch jedes Detail war bedeutsam – nicht nur die Texte, sondern schon allein die Überschriften bedeuteten etwas. Zum Beispiel das Wort ‚Mankurt‘: Das ist eine Legende aus dem kirgisischen Nationalepos „Manas“, die Ajtmatov in seinem Roman I dol’še veka dlitsja den‘ (in der DDR: Der Tag zieht den Jahrhundertweg; in der BRD: Ein Tag länger als ein Leben) literarisch verarbeitet hat. In diesem Heft geht es unter der Überschrift „Keine Mankurten sein“ um die Wiedereröffnung des Großen Konzertsaales des Moskauer Konservatoriums und die Notwendigkeit, den Menschen die klassische Musik nahezubringen. Im Kontext der Perestrojka wurde ‚Mankurt‘ – auch dank solcher Artikel im Ogonëk – zu einer Metapher für Geschichtsvergessenheit in der Sowjetunion, der nun mit der Perestrojka ein Ende gemacht werden sollte. Die Zeitschrift arbeitete mit Titeln, die die Leser ansprachen und ihr Gegenwartsbewusstsein verändern sollten.
Ogonëk kodierte quasi die Gegenwart der Perestrojka. So etwa auch – in einem anderen Heft – mit der Fotoreportage Galaktika po imeni pod“ezd (Eine Galaxie namens Treppenhaus). Hier wird am Beispiel des Hauses, in dem Bulgakov gewohnt hatte, der „pod“ezd“ (das Treppenhaus), der mit den Jahren in Ermangelung anderer – offizieller – Orte zu einem symbolischen Treffpunkt der Jugend geworden war, als sozialer Ort in den Blick gerückt. Man fragt in dieser Reportage: „Wo sollen wir uns denn treffen? Wir haben keine Räume.“ So wird ein Nicht-Ort zu einem einem Ort – und bleibt aber gleichzeitig etwas, bei dem auffällt: da fehlt was. Die Reportage deckt ein Manko in der Gesellschaft auf. Das ist die Wucht dieser Fotoreportagen im Ogonëk.
Nr. 9, 1989. Dieses Heft zählt zu den spannendsten in meiner Sammlung. Es enthält ein Porträt der Avantgarde-Malerin Ljubov‘ Popova; in der Rubrik „Aus literarischen Archiven des 20. Jahrhunderts“ finden sich Auszüge aus den in der Sowjetunion lange unveröffentlicht gebliebenen Werken Vasilij Rozanovs: Uedinënnoe (Solitaria) und Opavšie lisst’ja (Gefallene Blätter). Dann kann man hier Auszüge aus John Steinbecks Tagebuch aus den 1930er Jahren lesen, als er gemeinsam mit dem Fotografen Robert Capa die Sowjetunion bereiste – das war bis dahin ebenfalls nicht publiziert worden (auch einige Fotos sind abgedruckt).
Dieses Heft enthält außerdem die Dokumentation über einen aufsehenerregenden Skandal in der Musikwelt der späten 1970er Jahre. In der Pariser Oper war 1978 nach einer Denunziation aus der Sowjetunion die Neuinszenierung von Čajkovskijs (Tschaikowskis) Oper „Pique Dame“ durch den Regisseur Jurij Ljubimov (damals noch Chefregisseur des Moskauer Taganka-Theaters) verhindert worden. Was war der Hintergrund? Ljubimov hatte gemeinsam mit dem Bühnenbildner David Borovskij versucht, – so wie Meyerhold schon einmal in den 1920er Jahren – die Abweichungen im Libretto gegenüber Puškins Poem zurückzunehmen und das Libretto gleichsam wieder an Puškin zurückzuführen. Der Komponist Alfred Schnittke wollte entsprechende Änderungen in der Partitur vornehmen. Der damalige Dirigent des Bolschoj Theaters, der Litauer Algis Žiūraitis (Transkript. aus dem Russ.: Al’gis Žjurajtis) schrieb einen offenen Brief an die Pravda, in dem er die Änderungen scharf verurteilte. Sein denunziatorischer Tonfall war nicht zu überhören. Er prangerte das Vorhaben als bewusste Aktion zur „Zerstörung eines Denkmals der russischen Kultur“ an. Der Skandal schlug international hohe Wogen. Das Vorhaben wurde noch vor der Premiere abgesagt. Das ist so interessant, weil ein eigentlich künstlerischer Konflikt ganz in stalinistischer Manier in einen politischen Fall umgemünzt wurde.
Im gleichen Heft steht ein kritischer Bericht über den Zustand des Ausstellungsgeländes VDNCh (leider mit wenigen Fotos); ein Aufruf, die Volga vor einer ökologischen Katastrophe zu retten; ein Gespräch mit der Komponistin Sofija Gubajdulina, deren moderne klassische Kompositionen in den 1960er und 1970er Jahren in der Sowjetunion verboten waren.
Nr. 22, 1989. In diesem Heft wurden zwei kurze Erzählungen von Varlam Šalamov aus dem ersten Erzählzyklus der Kolymskie rasskazy (Erzählungen aus Kolyma) veröffentlicht. Begleitet wird die Publikation mit einer biographischen Notiz und drei Fotos – dem gleichen, etwas retuschierten Foto, das auch auf meiner Šalamov-Biographie abgebildet ist, einem der letzten Fotos von Šalamov im Altenheim und einem Bild von der orthodoxen Trauerfeier. Das war nicht die allererste Publikation seiner Texte, sie erschienen damals in verschiedenen Zeitschriften.
Im gleichen Heft gibt es einen Bericht über die Theaterinszenierung nach Evgenija Ginzburgs Lager-Erinnerungen Krutoj maršrut (Gratwanderung) im Moskauer Theater Sovremennik und den Artikel eines Historikers über den Sowjetisch-Finnischen Krieg von 1939-1940, einen damals weitgehend „unbekannten Krieg“.
Nr. 23, 1989. In dieser Ausgabe beginnt der Abdruck von Aleksandr Solženicyns Erzählung Matrenin dvor (Matrjonas Hof), deren Erstveröffentlichung in Novyj mir 1/1963 platziert war. Solženicyn lebte zu dieser Zeit noch in den USA. Begleitet wird die Publikation von einer Zusammenstellung von Stellungnahmen aus der sowjetischen Presse nach Solženicyns Ausweisung von 1974, in denen er einhellig als Verräter verurteilt wurde (darunter von Jurij Bondarev und Sergej Michalkov).
Aus Anlass der Tatsache, dass der Oberste Sowjet Jurij Ljubimov auf seine Bitte hin wieder die sowjetische Staatsbürgerschaft zuerkannte und ihm so die Rückkehr an das Taganka-Theater ermöglichte, gibt es einen Artikel des Schauspielers Veniamin Smechov über das Theater, begleitet von Fotos, darunter von einem Foto des Sängers und Schauspielers Vladimir Vysockij in seiner berühmten Hamlet-Rolle.
Das in Beiträgen der nationalistischen Zeitschrift Naš sovremennik (Unser Zeitgenosse) dominierende Geschichtsbild ist Anlass für einen polemischen Artikel, in dem vor der Gefahr einer extrem vereinfachten und dogmatischen Sicht gewarnt wird – analog zur berüchtigten Partei-Fibel, dem Kratkij kurs, dem Kurzlehrgang der Geschichte der KPdSU.
Nr. 31, 1989. Das Heft enhält eine Bildreportage über das Konzeptkünstler-Duo Vitalij Komar und Aleksandr Melamid. Das war natürlich eine Sensation: Sie waren damals seit zehn Jahren im Exil in den USA, weshalb ihre Bilder in der Sowjetunion de facto unbekannt waren; auch ich kannte sie nicht. In der gleichen Ausgabe steht ein Interview mit dem Filmregisseur Aleksandr Sokurov. Fortgesetzt wird der Abdruck mit Auszügen aus den Erinnerungen von Nikita Chruščёv. Als der Spiegel sie seinerzeit publizierte, hieß es in der Sowjetunion, sie wären eine Fälschung. Darüber hinaus enthält diese Ausgabe des Ogonëk vom Juli ein großes Interview mit dem Menschenrechtler Andrej Sacharov zur Perestrojka-Situation in der Sowjetunion. Das alles im gleichen Heft: Diese Gleichzeitigkeiten sind historisch höchst interessant.
(Fortsetzung des Interviews.)
novinki: Was war in literarischer Hinsicht das Interessanteste für Sie in den Jahren der Perestrojka?
Thun-Hohenstein: Aus heutiger Sicht zählen für mich Platonov – seine Romane Čevengur (Tschewengur) und vor allem Kotlovan (Die Baugrube) – sowie Šalamovs Kolymskie rasskazy (Erzählungen aus Kolyma) zu den wichtigsten ästhetischen Entdeckungen dieser Zeit. Šalamov war zweifellos eine so große Erschütterung, dass ich Jahre später begann, mich intensiv mit seinem Werk und seinem Leben zu befassen.
Die Auseinandersetzung mit den stalinistischen Repressionen war für mich kein völlig neues Thema: Zur Vorbereitung auf das bevorstehende Studium in Moskau bekam ich im Frühjahr 1969 drei Bücher in die Hand (ich war knapp achtzehn Jahre alt, mitten im Abitur) – das war die (schlechte) erste westdeutsche Übersetzung von Pasternaks Doktor Živago; außerdem der erste Teil von Evgenija Ginzburgs Lager-Autobiographie Krutoj maršrut (dt. zunächst unter dem Titel: Marschroute des Lebens) und Solženicyns Rakovyj korpus (Die Krebsstation). Ich las die drei Bücher in deutscher Übersetzung hintereinander weg. Ich weiß noch, dass Živago den stärksten Eindruck auf mich gemacht hat. Aber ich verdrängte ihn wieder, schließlich war ich pro-sozialistisch, pro-DDR und pro-Sowjetunion eingestellt und wagte nicht, mich damit innerlich weiter auseinanderzusetzen – das hätte bedeutet, diese Weltsicht über Bord schmeißen zu müssen. Ginzburg und Solženicyn kapselte ich irgendwie ein, hielt die Bücher eher auf Distanz, der Roman Doktor Živago war aus meiner Sicht weltanschaulich wie ästhetisch prinzipieller. Trotz schlechter Übersetzung haben die erzählte Geschichte sowie bestimmte Ideen und Motive einen so starken Eindruck hinterlassen, dass ich mich in den 1990er Jahren nochmal intensiver mit Pasternak beschäftigen sollte.
Es gibt eine Reihe anderer Werke, die ähnlich stark gewirkt haben, etwa Zamjatins My (Wir) oder Gedichte und Essays von Osip Mandel’štam, die ich vorher nicht gekannt hatte. Ich habe auch Notizen gefunden, in denen ich schrieb, dass mich Grossmans Leben und Schicksal als Roman ästhetisch nicht überzeugt hat. Natürlich gab es noch viele andere Texte, die mich sehr beschäftigt haben.
novinki: Und Nabokov?
Thun-Hohenstein: Nein. Warum nicht, kann ich nicht beantworten, das ist für mich auch eine offene Frage. Es gibt natürlich noch Achmatova, das Requiem. Und schon im Studium bin ich mit Gedichten von Pasternak und Cvetaeva durch Moskaus Straßen gelaufen – ich bin dort ja durchaus etwas romantisiert groß geworden.
novinki: Kommen wir nochmal zu Ihren Erfahrungen der Perestrojka-Jahre zurück. Wie groß war damals die Angst vor einem großen Krieg im Jahre 1988 – die Angst, die noch in den 1960er Jahren sehr präsent war?
Thun-Hohenstein: Seit Gorbačёv an der Macht war, war bei mir die Angst weg – mit einer persönlichen Einschränkung. Ich habe mich ja damals sehr intensiv durch die sowjetische Presse gewühlt, viel gelesen. Wenn ich in Moskau war – ich war sehr häufig in Moskau und im Frühjahr 1989 dann auch drei Monate am Stück – hatte ich die Möglichkeit, mich mit vielen Menschen über die verschiedensten Dinge zu unterhalten; darunter auch mit einem Mann, der lange Zeit Dekan der journalistischen Fakultät gewesen war und viele kannte. Ich bekam teilweise Einblick in die innere Dramatik der Situation: Deshalb wusste ich im Herbst 1989, als die Ereignisse in der DDR sehr brisant wurden, dass es in der Sowjetunion – wie auch in den USA – zwar Generäle gab, die an dem alten Feindbild festhielten, aber Gorbačёv immer noch das Sagen hatte. Zudem war die Situation in der Sowjetunion innenpolitisch derart kompliziert und widerspruchsvoll, dass mir klar war, dass von dieser Seite keine militärische Einmischung kommen würde. Die größte Angst hatte ich zu dieser Zeit wohl vor der DDR-Armee – davor, dass sie innenpolitisch zuschlagen könnte. Eine Intervention, die von den auf DDR-Territorium befindlichen sowjetischen Truppen ausgehen könnte, befürchtete ich nicht. In den 1960er Jahren war das anders, das stimmt.
Was die Frage eines Bürgerkriegs angeht, so gab es zum Ende der Sowjetzeit natürlich Befürchtungen – besonders stark nach dem Putsch von 1991: Wer hat die Macht über die Atombomben, wenn Anarchie und Chaos ausbrechen und keine geordneten Befehlsstrukturen bleiben? Was geschieht dann? Diese Fragen waren präsent – und bleiben es ja auch in unserer Welt.
Ich habe Gorbačёv später, nachdem er nicht mehr Präsident war, dolmetschen dürfen; u.a. auch ein Gespräch, das Alexander Kluge mit Gorbačёv über sein Treffen mit Reagan in Reykjavik geführt hat – eine sehr interessante Erfahrung für mich. Die Politik, die Gorbačёv eingeschlagen hat, war eine echte, eine absolute Zäsur in der ganzen Ost-West-Auseinandersetzung.
Dann fragte mich Granin, was ich davon hielte, wenn die Berliner Mauer fiele. Ich weiß noch, dass ich antwortete, wenn, dann aber bitte schrittweise. Seine Antwort habe ich noch im Ohr: „Du hast bloß Angst vor den Winden der Geschichte.“ Wir hatten es beide nicht geahnt, aber ein halbes Jahr später in Berlin – nach dem Fall der Mauer – liefen wir zusammen zum Brandenburger Tor, wo die Devotionalien der Sowjetarmee verkauft wurden. |
novinki: Haben Sie erwartet und sich vorstellen können, dass es in der DDR zur Wende kommt und dass die Mauer fällt?
Thun-Hohenstein: Nein, das habe ich nicht erwartet. Im Frühjahr 1989 war ich in Moskau – damals waren schon einige Deputierte des Volkskongresses gewählt worden. Dazu gehörte auch der Schriftsteller Daniil Granin.
Granin war ein langjähriger Freund unserer Familie. Ich kannte ihn und er kannte mich schon lange. Als sich der Konflikt zwischen Gorbačёv und Boris El’cin verschärfte, gab es in Moskau eine Pro-El’cin-Demo auf der Tverskaja, damals ulica Gor’kogo (Gorki-Straße). Ich bin kein Demo-Mensch, aber Granin war gerade in Moskau und forderte mich auf, mit ihm dorthin zu gehen – schließlich sei er schon als Deputierter für den Volkskongress gewählt, mit ihm brauchte ich keine Angst zu haben, wir würden schon nicht einkassiert werden. Dann trafen wir uns am Hotel Moskva – es wurde später abgerissen und neugebaut – und liefen die ulica Gor’kogo hoch. Gegenüber vom Dom Mossoveta, dem Sitz der Moskauer Stadtverwaltung, am Denkmal für Jurij Dolgorukij, dem Gründer von Moskau, sollte eine Kundgebung stattfinden. Wir liefen den schmalen Bürgersteig die Straße entlang – bei laufendem Berufsverkehr. Die Straße war nicht gesperrt, der Bürgersteig war krachend voll mit Menschen, die teils überhaupt nichts mit der Demo zu tun hatten, und jenen, die zur Kundgebung wollten. Die Miliz hatte den Bürgersteig abgesperrt: Ganz dicht stand ein kleiner Milizbus hinter dem anderen. Alles war abgeriegelt, es ging nur noch in eine Richtung, zur Kundgebung, zum Platz mit dem Denkmal.
Dort angekommen wurde es immer enger auf der Straße, das ZDF filmte die Demo. Es war eine skurrile Szene: Jemand saß mit einer roten Fahne auf dem Jurij Dolgorukij-Denkmal und redete ins Megaphon – ein bisschen wie in einem Revolutionsfilm. Granin und mir wurde das dann zu dicht und wir wichen in eine Seitenstraße aus. Aber auch die Zugänge zu den Seitenstraßen waren alle abgesperrt. Wir blieben stehen. Dann fragte mich Granin, was ich davon hielte, wenn die Berliner Mauer fiele. Ich weiß noch, dass ich antwortete, wenn, dann aber bitte schrittweise. Seine Antwort habe ich noch im Ohr: «Ty tol’ko boiš’sja vetrov istorij.» Also: „Du hast bloß Angst vor den Winden der Geschichte.“ Wir hatten es beide nicht geahnt, aber ein halbes Jahr später – nach dem Fall der Mauer – war er in Berlin und wir liefen zusammen zum Brandenburger Tor, wo die Devotionalien der Sowjetarmee verkauft wurden. Das hat ihn dann doch geschockt.
In dieser Schnelligkeit und mit all seinen Konsequenzen kam der Mauerfall total überraschend. Gott sei Dank, auf die Weise. Das ist schon ein Glücksfall der Geschichte: Wenn es Gorbačёv an dieser Stelle nicht gegeben hätte, wer weiß..? Was nicht heißt, dass alles ohne Fehler gelaufen ist.
Die Wende und ihre Folgen – das wäre nochmal ein ganz anderes Thema.
novinki: Herzlichen Dank für das Gespräch!
Rückseiten der oben besprochenen Ogonëk-Ausgaben, chronologisch sortiert. Die in diesem Beitrag abgebildeten Journal-Auszüge sind dem frei zugänglichen Zeitschriften-Archiv magzDB.org entnommen, in dem auch das Ogonëk-Archiv (1923-2020) platziert ist.
Franziska Thun-Hohenstein ist Verfasserin der kürzlich erschienenen Biographie Das Leben schreiben. Warlam Schalamow: Biographie und Poetik (Matthes & Seitz Berlin, 2022). Das für ein breiteres Publikum geschriebene Buch vermittelt viel Information in einer narrativ, stilistisch sehr angenehm lesbaren Weise – nicht nur über die Person und den Autor Varlam Šalamov, sondern auch über die kulturhistorischen Hintergründe und Zusammenhänge seines Schreibens von den 1920er bis in die 1970er Jahre.
Die Idee zu diesem Buch wurzelt in den Erfahrungen, die Franziska Thun-Hohenstein als Herausgeberin der deutschsprachigen Werkausgabe Varlam Šalamovs bei Matthes & Seitz seit 2007 sammeln konnte. Bereits in ihrem Buch Gebrochene Linien. Autobiographisches Schreiben und Lagerzivilisation (Kulturverlag Kadmos Berlin, 2007), verweist sie im Epilog auf Varlam Šalamov. Anhand verschiedener Erinnerungstexte (vor allem von Lidija Ginzburg, Evgenija Ginzburg, Oleg Volkov, Evfrosinija Kersnovskaja und Abram Terc/Andrej Sinjavskij) beschäftigt sich die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin mit Formen autobiographischen Schreibens vor dem Hintergrund der sowjetischen Lagerzivilisation. Mit diesen beiden Büchern hat die Slawistin Franziska Thun-Hohenstein die Auseinandersetzung mit der russischen Literatur im Kontext der internationalen Debatten über Gedächtnis, Zeugenschaft und die Möglichkeiten der Subjektformierung „nach dem GULAG“ im deutschsprachigen Raum wesentlich mitinitiiert.