Mit dem russischen Großangriff auf die Ukraine verwandelte sich Berlin, wie viele andere Metropolen Europas, in eine Bühne der Solidarität: Gelb-Blau, die Farben der ukrainischen Nationalflagge, prägen dem Zeichenraum der Stadt ihre symbolische Strahlkraft auf. Nach über einem Jahr des furchtbaren vollumfassenden Angriffskriegs scheinen die Flaggen in verschiedenen Formaten, die an Wohnhäusern, kulturellen, administrativen und universitären Gebäuden zu sehen sind, beinahe mit der Stadt verwoben, sogar bereits ein Stückweit mit ihr gealtert zu sein. Berlin avancierte nicht nur zu einem Austragungsraum für ukrainische Protestveranstaltungen, sondern wurde leider auch unübersehbarer Schauplatz eines verschwörungstheoretisch-angehauchten Konglomerats aus russischen Kriegstreiber_innen, Pseudo-Pazifist_innen oder Gegner_innen von Waffenlieferungen für die existenzielle ukrainische Selbstverteidigung.
Die Bilderserie konzentriert sich auf den unbeugsamen Freiheitskampf der Ukrainer_innen gegen den russischen Aggressor – aus Berliner Perspektive. Die Fragen sind berechtigt: Was können die Nationalfarben schon bewirken, außer dass sie Zeugnis ablegen für jene historische Phase, die mit dem symbolträchtigen Wort ‚Zeitenwende‘ überschrieben worden ist? Was steckt hinter der symbolischen Oberfläche an aufrichtigem, entschiedenem Engagement? Einerseits wirken die Flaggen im Berliner Stadtraum als mahnende Erinnerungen an einen gewaltsamen, genozidalen Krieg in Europa – der erste offene Angriffskrieg seit fast achtzig Jahren. Ein verbrecherischer Krieg, der sich gegen die Ukraine als Nation, gegen Europa als Idee richtet – und täglich weitere, tiefere Wunden in das materielle und symbolische, individuelle und kollektive Bewusstsein der ukrainischen Landsleute reißt. Zum anderen ist das Gelb-Blau von Flaggen, Plakaten und Graffiti für viele mehr als schlichte Nationalsymbolik: So, wie jene gigantische Flagge, die eine Ukrainerin auf der Demo vom 24. Februar stolz, aber mit schmerzerfülltem Gesicht vor sich hertrug, als könnte sie – zusammen mit dem seidigen Stoff – die gesamte Ukraine umfassen, sie zusammenhalten und mit ihr verschmelzen, ist das Gelb-Blau nicht nur Metapher oder vereinendes Symbol, sondern kann – bildaktiv und metonymisch – weit über sich hinaus wirken.
„So blitzartig das punctum auftauchen mag, so verfügt es doch, mehr oder weniger virtuell, über eine expansive Kraft. Diese Kraft ist metonymisch.“
(Roland Barthes: Die Helle Kammer, Suhrkamp, Berlin 2016/1989, S. 55)
Die Fotographien stammen von Elisabeth Bauer.